TAG DER SCHRIFT
SAMSTAG, 12. MAI 2012, 9.15–15.00 UHR
BERUFSSCHULE FÜR GESTALTUNG, ZÜRICH
WWW.TAGDERSCHRIFT.ORG

Reise ins Innere der Schrift

Rund 200 Interessierte waren am12. Mai zum neunten, von Syndicom mit­organisierten «Tag der Schrift» an die Berufs­schule für Gestaltung in Zürich gekommen – ein Rekord. Kein Wunder bei den spannenden Themen der Referate.

Eigentlich wollte ich nur nach Zürich fahren an jenem regnerischen Samstag. Aber dann wurde unversehens eine Weltreise daraus. Nein, ich bin nicht in den falschen Zug gestiegen – aber ich habe am «Tag der Schrift» Bruno Maag zugehört. Der Creative und Managing Director der Firma Dalton Maag Ltd. in London, der unter anderem das Logo der Swisscom mitgestaltet hat, ist dabei, für einen grossen Mobiltelefon-Hersteller neue Schrift­systeme zu ent­werfen, die rund um den Globus auch auf Handy­displays passen.

Vielfalt der Zeichen

Nach Taipeh gings zuerst, wo es eine über­raschende Formenvielfalt chinesischer Schriften und einen spielerischen Umgang damit gibt, dann nach Peking, wo man im Gegen­satz dazu nur wenig «Auswahl» findet und wo alles behördlich abgesegnet werden muss – auch was Maag für diesen Sprachraum entworfen hat. Das sind nicht weniger als 27 500 Zeichen, das Minimum, damit ein chi­ne­sisches Schrift­system funktioniert. Jedes dieser Zeichen besteht dabei aus einem Dutzend Standard­strichen, die zu «Radicals» und «Body Parts» zusammen­gesetzt werden, in mehreren Varianten …

Und das war nur der Anfang der Heraus­forderungen, die sich Maag bei diesem Auftrag stellten: Zwar benutzen weltweit zwei Milliarden Menschen die lateinische Schrift als ihr Hauptschriftsystem, und fast alle als Zweitsystem. Aber es gibt auch noch die – immerhin eng mit dem lateinischen verwandten – griechischen und kyril­lischen Schrift­systeme. Und die armenische Schrift, für die sich kaum ein Experte finden lässt, oder die äthiopische für Amharisch, nur aus Kon­so­nanten mit Vokali­sationen bestehend und wohl mit einer kalli­grafischen, nicht aber typo­grafischen Tradition («die hatten den Gutenberg nie» so Maag), Hebräisch, mit Hunderten von Vokalisationen, Arabisch mit wunderschönen Schreibschrift-Formen und verschiedenen Schriftstilen, die sich nicht am Computer setzen lassen («ein Riesen­auf­wand»), die persische Schrift, bei der man aufpassen muss, dass die Entwürfe nicht zu «arabisch-imperialistisch» wirken, die zehn ganz individuellen Schriftsysteme Indiens oder jenes von Sri Lanka, Kambodscha, Thailand, Vietnam …

Was «Globalisierung der Schrift» bedeutet, musste anschliessend niemand mehr fragen. Und was Maag meinte mit «unsere Arbeit als Typo­grafen hat Wert!» war auch allen klar. Welch ein Aufwand, bis alles stimmt und harmoniert! Bis ins Detail – und genau dort­hin ging eine weitere Reise an diesem «Tag der Schrift» Nina Stössinger, selbst­ständige Grafikerin in Basel, erzählte auf sehr persönliche Weise, wie sie ihre erste eigene Schrift, die FF Ernestine, entwickelt hat. «Ernestine oder wie ich lernte, das Detail zu lieben» hatte sie ihr Referat übertitelt.

Und dieser Lernprozess war ein langer Weg – «zeitweise wagte ich nicht mehr zu hoffen, dass es gelingen würde,» sagte die Grafikerin. Aber es ist geschafft: Die neue Schrift ist ganz so, wie geplant. Mit klarer Zeichnung strahlt sie Robustheit und Stabilität aus, wirkt freundlich und seriös mit ihren kurzen, breiten Versalien … wenn man Schriftbeschreibungen hört oder liest, merkt man, wie viel Schrift mit Empfinden zu tun hat.

Perfektion bis ins Detail

Faszinierend auch die Akribie und Hingabe der Gestaltenden an ihre Aufgabe – man denkt unwillkürlich an mittel­alter­liche Buch­malerei mit ihrer Innig­keit und Inten­sität. «Die Schrift übernahm mein Leben» so die Referentin. Und eben: «Wie eine Schrift läuft und funktioniert, wie sie sich liest – darüber entscheiden Details.» Zeichnen, Digitalisieren, Zurichten, Kerning, («ich habe gelernt, den Weissraum zu sehen» so viele Schritte sind nötig und so viel muss zusammenspielen, damit sich eine Schrift auch im Textblock oder auf dem Bildschirm gut liest. Diese Suche nach Perfektion teilt auch der Typografische Gestalter Dominique Kerber, der ebenfalls seine erste eigene Schrift entwickelt hat – die Cast. Wie ein «Casting Director» sei er sich dabei auch vor­ge­kommen: «Jedes Schriftzeichen hat seine Rolle, und erst durch die richtige Besetzung wird die Inszenierung ein Erfolg!»

Lesbarkeit und Funktionalität sind Stich­worte, die auch für einen weiteren Refe­renten des «Tags der Schrift» galten: Ralf Herrmann, Web-, Grafik- und Type-Designer aus Weimar, widmete sich europäischen Verkehrsschildern, die auch die visuelle Identität eines Landes prägen. Und der aus der Slowakei stammende, in den Niederlanden lebende Grafiker und Schrift­gestalter Peter Bil’ak öffnete mit seiner «Toolbox» den unzähligen Variationen seiner Schrift GretaSans, den Horizont für die «Schrift­reisenden» an diesem Tag: Multi­dimensionale Möglichkeiten ohne Ende auch für die komplexesten typo­grafischen Auf­gaben, verschie­denste Kom­bi­nationen von Strich­dicken, Breiten, Stilen, sogar die Assoziation der 80 Schnitte der Schrift mit Musik und Farben – die Reise ging ins Unendliche.

 

Gabriele Brodrecht